Das Phantom des Tacheles-Areals. Die erste Reformsynagoge Berlins von ihrer Erbauung 1854 bis zu ihrer Tiefenenttrümmerung 2016

Laura Maria Lampe, 2024

Vergrösserte Ansicht: Kopfbau "Kunsthaus Tacheles", Nord-Ostansicht der 23.500m2 umfassenden Arealüberbauung (2016-2023) der letzten Brachen in Berlin Mitte; Foto: Laura Maria Lampe
Kopfbau "Kunsthaus Tacheles", Nord-Ostansicht der 23.500m2 umfassenden Arealüberbauung (2016-2023) der letzten Brachen in Berlin Mitte; Foto: Laura Maria Lampe

Im Jahr 2016, nach 62 Jahren unter der Erde, wurden im Zentrum Berlins die Fundamente der ersten Reformsynagoge der Hauptstadt im Zuge einer Baufelderschliessung freigelegt. Einem Phantom gleich wurde die Reformsynagoge nach ihrem kurzweiligen Auftauchen aus den Sedimenten durch die anschliessende Tiefenenttrümmerung erneut und unwiederbringlich in ihre Stille gehüllt. Eine öffentliche, mediale Debatte um ihre Freilegung und ihren Erhalt hat nie stattgefunden.
Die Synagoge der jüdischen Reformgemeinde wurde im Jahr 1854 erbaut, überdauerte die Zeit des Nationalsozialismus und wurde erst durch Bombentreffer 1945 derart zerstört, dass sie hundert Jahre nach ihrer Errichtung im Jahr 1954 oberirdisch abgetragen wurde. Durch die Tiefenenttrümmerung ist ein Teil sichtbarer Geschichte verschwunden, den die Archäologen als «Meilenstein» der jüdischen Kultur in Deutschland bezeichnen, da hier die kulturellen, identitätsstiftenden und pluralen Zusammenhänge unserer Gesellschaft erfahrbar werden. Hannah Arendt beschreibt diese Zusammenhänge als ein «zerbrechliches Bezugsgewebe, in dem sich die Angelegenheiten der Menschen untereinander verstricken». Dieses Bezugsgewebe ist in ihren Worten der «Erscheinungsraum» und folglich die gebaute Realität unserer
Stadt. Das Bundesverfassungsgericht in Deutschland hat die Verantwortung um das kulturelle Erbe als «Gemeinwohlaufgabe» bezeichnet, als ein «ein notwendiges Korrektiv zur Dynamik der zivilisatorischen Prozesse». Wer nimmt diese Verantwortung zum Schutz von kulturellen Sichtbarkeiten in einer pluralen Gesellschaft wahr? Ist es die Politik, sind es die Gesetze oder Instanzen der Archäologie und der Denkmalpflege oder ist es die Öffentlichkeit? Welche Mechanismen sind die eigentlichen Phantome, die über Sichtbarkeiten in einer kapitalistisch geprägten Gesellschaft bestimmen?
Durch die Sichtung der archäologischen Grabungsgutachten und dem Archivmaterial der Grundakten der Reformsynagoge vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute, wird die Chronologie der Verhandlung jüdischen Bodenbesitzes deutlich: wo anfangs noch Reichsgesetze die Enteignung jüdischen Besitzes veranlassten, sind es heute Gesetze zur Grundbuchlöschung der Vorbesitzer oder zum Investitionsvorrang gegen Restitutionsansprüche. Diese Gesetze führten dazu, dass sich die Spur des jüdischen Bodenbesitzes im Laufe der Zeit verlieren konnte, bis die Fundamente bei der archäologischen Grabung der Baufelderschliessung des prestigeträchtigen Investitionsprojektes «AmTacheles» unvermittelt freigelegt wurden.